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Nachbarn

Bahnhofstraße 44/46 - Leben zweier Familien in Briefen; die Jahre 1939-42 der 'arischen' Familie Moos und der jüdischen Familie Strauss

Erschienen am 22.03.2022, Auflage: 1/2022
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783737404945
Sprache: Deutsch
Umfang: 176 S.
Format (T/L/B): 2 x 21.5 x 13.8 cm
Lesealter: 18-99 J.
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

In einem großen Doppelhaus aus dem 19. Jahrhundert leben in Wiesbaden zwei sehr unterschiedliche Nachbarn. Auf der einen Seite wohnt die 'arische' Familie Moos aus bürgerlichen Verhältnissen, die lange Zeit mit Geldsorgen zu kämpfen hat. Der Vater Heinrich wird früh NSDAP-Mitglied und später überzeugter Anhänger Hitlers. Die andere Hälfte des Doppelhauses gehört der jüdischen Familie Strauss, die wohlhabende Weinhändler sind. Zwei ihrer Kinder sind bereits 1939 emigriert, um den Naziregime zu entgehen. Von beiden Nachbarsfamilien ist ein umfangreicher Briefwechsel erhalten, der die gleichzeitige Sicht auf zwei Lebenswelten zulässt: Kriegsgeschehen und nationalsozialistische Überzeugungen einerseits und Unterdrückung, Verfolgung und Deportation andererseits. Die hier erstmals in einer Auswahl zeitlich, thematisch und räumlich direkt gegenübergestellten Briefe verdeutlichen die Parallelität des Erlebten und liefern ein gar nicht zu überschätzendes Quellenzeugnis für die deutsche Alltagswelt zwischen 1939 und 1945.

Autorenportrait

Veronika Moos, geboren am 3. November 1962 in Wiesbaden. Nach dem Abitur Ausbildung zur Bühnenmalerin. Seit 1999 Leiterin des Malsaals am Staatstheater in Wiesbaden und seit 2000 Vorsitzende des bundesweiten Prüfungsausschusses für Bühnenmaler und -plastiker.

Leseprobe

In der Bahnhofstraße, neben dem Haus Nr. 44, in dem ich als Kind viel Zeit in der Wohnung meiner Großeltern verbracht hatte, stolperte ich im Juni 2019 über die Stolpersteine vor dem Haus Nr. 46. Da standen sie, Namen aus der Vergangenheit. Die Nachbarn Strauss waren mir immer ein Begriff gewesen, ohne jemals mehr zu wissen als dass mein Vater als Kind eine Fensterscheibe in der Nachbarwohnung eingeworfen hatte. Mehr erfahren zu wollen über die Menschen, die dort gelebt und den Nationalsozialismus nicht überlebt hatten, wurde ebenso wichtig wie die Frage nach dem Wissen und der Mittäterschaft meiner Großeltern. Sie hatten den Krieg überlebt und lebten noch viele Jahre in der Bahnhofstraße 44. Wo in Wiesbaden ein Stolperstein ist, da gibt es auch ein Erinnerungsblatt, erstellt und veröffentlicht vom "Aktiven Museum". So bekommen Namen Gesichter und eine kurze Geschichte, zusammengefasst auf meist nur einer Seite, zu kurz für ein ganzes Leben. Hedwig und Sebald Strauss hatten drei Kinder, von denen zwei emigriert waren und den Holocaust überlebt hatten. Was war aus ihnen geworden? Hatten sie Nachkommen? Beim Suchen traf ich schnell auf den Namen Alfred Strauss, der nach der Emigration nach Wiesbaden zurückgekehrt war. Meine Internetrecherche führte ebenso schnell auf eine Seite über die Wiesbadener "Judenhäuser", zu denen auch das Haus der Familie Strauss in der Bahnhofstraße 46 gehörte. Dort wurde ich auf den Briefwechsel zwischen Alfred und seinen Eltern aus den Jahren 1939 bis 1942 aufmerksam. Etwa 200 Briefe, Postkarten und Telegramme der Familie sind aus dem Nachlass von Alfred Strauss im Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden erhalten. Wie sind Alfreds Briefe an seine Eltern erhalten geblieben? Die Eltern müssen die Briefe einem Menschen ihres Vertrauens überlassen haben, der sie vielleicht für Alfred aufheben sollte. Wer könnte das gewesen sein? Die Briefe meiner Großeltern sind, in fünf alten Ordnern sortiert, im Privatarchiv meines Vaters zu finden. In einem dieser Ordner befindet sich vorne eine Seite mit der Schrift meiner Großmutter: "Briefe von unserem lieben Vati und mir aus dem 2. Weltkrieg. Alles nur Liebe und wieder Liebe." Die Briefe, die hier gegenübergestellt werden, geschrieben von Nachbarn in der gleichen Zeit, gewähren einen verstörend gegenwärtigen Einblick in das Leben zweier Familien. Mit Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935, u. a. des "Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", waren nicht nur Ehen, sexuelle Verhältnisse, sondern jeder gesellschaftliche Umgang von jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen strafbar. Auch wenn sie Nachbarn waren. Beim Lesen der Briefe wurden Alfred, Hedwig und Sebald Strauss für mich zu Bekannten, die ich mir lebhaft vorstellen konnte, in einer Wohnung, die mir bekannt zu sein schien. Meine Großeltern lernte ich bei dem Lesen ihrer Briefe neu kennen. Die Familien Moos und Strauss stehen stellvertretend für hunderttausende anderer Menschen und Familien während der Nazidiktatur.